Sein künstlerisches Wesen

Der „musikalische Geist Géza Andas“ ist eine Konzeption, die weit über das Klavierspielen und über die Beschränkung auf ein bestimmtes Repertoire hinaus reicht; es handelt sich um eine geistige Konzeption, die den ganzen Menschen erfasst insofern, als sie den noch unfertigen Menschen in einer Annäherungsbewegung an das fertige Kunstwerk versteht. Das „Festliche“ seines musikalischen Stils und das „Poetische“ seiner subtilen klanglichen Lyrik sind Ausdrucksformen, die er bei Schumann im Dualismus von Eusebius und Florestan sozusagen modelltypisch vorfindet. Die später erfolgende Hingabe an die Clarté der Musik Mozarts könnte man als Frucht einer jahrelangen intellektuellen Auseinandersetzung verstehen, wie sie ebenfalls Schumann mit dem Bild seines davidsbündlerischen „Meister Raro“ gezeichnet hat: als das lange Ringen um die intermittierende Rolle der Vernunft zwischen den Polen einer überbordend-auswendigen Kraft und einer inwendigen Versenkung. Wer immer einen Géza Anda auf dem Podium als Feuerkopf einerseits, als still in sich versunkenen, nüchtern wirkenden Intellektuellen andererseits erlebte, bemerkte eine der beiden grundlegenden Eigenschaften dieses Künstlers. Es handelte sich allerdings um eine Intellektualität, die sich restlos in den Dienst einer intuitiv erfassten Musikalität stellte; wenn Géza Anda auf das Podium ging, dann war dies der Ort einer öffentlich zelebrierten Grübelei nicht mehr; er hatte sie im Vorfeld bereits erledigt, indem er all seine geistigen Kräfte dahingehend anspannte, um die Wegstrecke zwischen einer sicher geahnten „Vorstellung“ und ihrer technischen Realisation zu verkürzen. Er nannte diese technische Realisation eine „geistige Konzeption“, und „Fingerarbeit“ war für ihn gleichbedeutend mit „Kopfarbeit“. Und indem er jahrelang darum ringt, noch mehr Spannung durch noch mehr Entspannung zu erzielen, wirkte er auf dem Podium als ein Künstler, dessen Publikum die Illusion hatte, er spiele mit der Musik, anstatt sie zu spielen, alles gehe wie von selbst und wirke nahezu schwerelos. Dieser Eindruck war hart erkämpft, er war das Ergebnis eines endlos langen Bemühens um triviale technische Probleme, um dann, hatte man dieses Problem einmal gelöst, die „musikalische Struktur und den inneren Gehalt eines Werkes auf das Klavier hinüberzuzaubern“.

Géza Anda – Sechzehntel sind auch Musik

Der „musikalische Geist Géza Andas“ ist vergleichbar einer Intelligenztätigkeit, die sich in ständiger Pendelbewegung zwischen den Polen eines kaum erreichbaren Zieles (die vollkommene Meisterschaft als Analogon des vollendeten Kunstwerks) und eines täglichen, trivialen mechanischen Trainings bewegt (die Finger-Kopf-Arbeit). In Bewegung gehalten wird dieses Pendel durch grundsätzliche Tugenden: Hingabe, Beharrlichkeit und erbarmungslose Selbstkritik. In diesem Sinn hat sich Géza Anda immer selbst verantwortlich gefühlt für die Qualität seines künstlerischen Produkts und hat weniger glanzvolle Aufführungen weder dem schlechten Flügel noch einem schlechten Publikum angelastet. Seinen Meisterkursschülern schrieb er keine verbindliche Interpretation vor: er drängte auf richtige Ausführung der geschriebenen Noten und erlaubte ihnen darüber hinaus, so zu spielen, wie sie es sich vorstellen. Mit einer Einschränkung: man musste ihn mit dieser andern Interpretation vollständig überzeugen. Indoktrinationen passten nicht zu seinem „musikalischen Geist“, wohl aber Erwartungen, die sich auf eine Einheit von ideeller Zielvorstellung und individueller Pflichterfüllung richteten. Womit wir wieder beim Kern seiner geistigen Pendelbewegung wären; beim Appell, den das vollkommene Kunstwerk an eine sich zu vervollkommende Persönlichkeit richtet.“ Auszug aus dem Buch „Sechzehntel sind auch Musik“ – Dokumente seines Lebens. Ausgewählt und kommentiert von Hans-Christian Schmidt – Artemis & Winkler, Zürich (1991), Kap. 9, „Géza Anda: Der musikalische Geist“, S. 248f